Montag, 21. Mai 2012

Demenzkranke zu Hause pflegen?

Als der behandelnde Arzt uns damals im Oktober 2010 die Diagnose "Morbus Pick" unterbreitete, waren wir - wie wohl viele Angehörige - zunächst der Ansicht, meine Mutter könne weiterhin in ihrer eigenen Wohnung leben - vielleicht mit einem Pflegedienst, der täglich vorbeikäme. Schließlich machte sie trotz allem einen fitten Eindruck - auch wenn sie nicht mehr in der Lage war, sich um sich selbst und um ein Zuhause zu kümmern. - Vor allem ich konnte sie nicht in Einklang mit dem Bild der typischen Alzheimer-Stationen von Altersheimen in Verbindung bringen, die ich als studentische Aushilfe vor Jahren kennengelernt hatte. - Doch ich hatte mit dieser Erfahrung damals auch gelernt, dass es ein Trugschluss von Angehörigen ist, Demenzkranke gut bei sich Zuhause pflegen zu wollen.

Der Arzt machte uns auf eine sachliche Art und Weise schnell deutlich, dass es keine Alternative zu einer professionellen - und geschlossenen - Unterbringung geben könne - zum eigenen Wohl meiner Mutter.

Mit dieser Information setzten wir uns ans Telefon und Internet. Unser Lernprozess vollzog sich in atemberaubendem Tempo: Nach den ersten Gesprächen mit verschiedenen Altersheimen stellten wir entsetzt fest, dass deren Pflegeleitungen in der Regel überhaupt keinerlei Kenntnis über diese Erkrankung, geschweige denn den damit einhergehenden Bedürfnissen, hatten. Dennoch wollte man meine Mutter überall gerne aufnehmen.

Wir stellten fest, dass eine 'normale' Alzheimer-Station eines 'handesüblichen' Altenheimes nicht infrage kam, auf der 80jährige tagtäglich in wilder kommunistischer Anarchie leben (wie eben auch 2jährige, wenn man sie ließe): Jeder zieht die Kleidung von jedem an, persönliche Besitztümer gibt es nicht mehr etc.

Wir stellten fest, dass eine besondere Kenntnis hinsichtlich dieser Erkrankung für eine optimale Pflege signifikant notwendig war. Dies ist besonders schwierig, da nur einige tausend Menschen in Deutschland an diesem Krankheitsbild leiden.

Wir stellten fest, dass es ebenfalls wichtig war, in unserer Nähe eine Unterbringung zu finden: Nah genug, um öfter vorbeizuschauen falls notwendig; weit genug weg, um nicht täglich aufzulaufen.

Recht schnell erfuhren wir von sog. geronto-psychiatrischen Stationen in verschiedenen Kliniken. Hier leben ältere Menschen mit verschiedenen Erkrankungen zusammen. Der Oberarzt schaut jede Woche zur Visite vorbei, es gibt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Aktivitäten, das Pflegepersonal ist optimal ausgebildet im Umgang mit den Bewohnern. Leider gibt es viel zu wenig Plätze in derartigen Einrichtungen, so dass wir wirklich Glück hatten, als uns der Anruf erreichte, man wolle meine Mutter gerne aufnehmen, da sie gut in die "Stations-Gruppe" passe.

Mit der Pflegestufe "0" bezog meine Mutter Ende Nov. 2010 ein Zimmer in dieser Station. Aufgrund ihres vorherrschenden Fluchtgedankens war eine geschlossene Unterbringung notwendig geworden. Von Anfang an war unser Vorbehalt dagegen wie weggeblasen, denn sie nimmt an einer Vielzahl von Aktivitäten teil: Zweimal die Woche geht sie mit der Gruppe in eine nahegelegene Turnhalle, freitags ist Schwimmen, montags Gesellschaftstanz, Singen, Malen, Beschäftigungsangebote auf der Station, Spazierengehen, kleinere Ausflüge in die Umgebung (Zirkus, Markt etc.). Das Essen steht zu den gewünschten Zeiten auf dem Tisch. Das Pflegepersonal reagiert geduldig und liebevoll, aber auch führend, wenn es sein muss.

In unserem eigenen Haushalt oder in einer nahegelegenen eigenen Wohnung hätten wir ihr ein derart abwechslungsreiches Alltagsleben nicht bieten können. Ein Pflegedienst hätte aufgrund der zunächst fehlenden Pflegestufe nicht beauftragt werden können, denn Demenzkranke sind ja noch lange Zeit in der Lage, sich selbst zu pflegen. Doch für die ständige Betreuung und Beaufsichtigung gibt es außerhalb einer Heimunterbringung keinerlei sinnvolle Möglichkeiten. - Ich hatte in den vergangenen Monaten mehrfach die Gelegenheit mit Angehörigen von FTD-Erkrankten zu sprechen, die Zuhause untergebracht sind: Die Belastung für die Angehörigen ist in jeder Hinsicht enorm - und viel zu hoch und falschverstanden, um sie so tragen zu können, aus meiner Sicht der Dinge.

Demenz ist ein degenerativer Prozess, der bei den Angehörigen sehr viel Geduld im Umgang mit den Erkrankten erfordert, und leider nur in eine Richtung fortschreitet. Der Schock sitzt tief, wenn man von dieser Diagnose erfährt, doch aufopferungsvolles Heldentum ist m. E. unangebracht und falsch. Ich befinde mich als sog. "mittlere Generation" zwischen meinen Eltern und meinen Kindern, es ist vermutlich die Zeit der höchsten Verantwortung, der meisten Verpflichtungen - nicht nur im familiären Bereich, sondern auch im beruflichen. Es nützt niemandem etwas, wenn ich selbst mir nicht nur zu viel aufbürde, sondern auch noch soviel zuviel, dass ich selbst ernsthaft krank werde - oder mich von anderen 'auffressen' lasse.

Natürlich war meine Mutter anfangs alles Andere als begeistert, natürlich ist im Heim nicht alles Gold, was glänzt, natürlich habe ich immer ein schlechtes Gewissen, weil ich öfter da sein könnte... ABER

Es bleiben genügend zu erledigende Aufgaben übrig, dener man kaum Herr wird, wenn man die gesetzliche Betreuung übernommen hat. Wir besuchen sie nahezu jedes Wochenende und an den Feiertagen. Wir sind in der Regel gutgelaunt und entspannt und genießen die gemeinsame Zeit mit ihr. Mutter macht einen gelassenen und zufriedenen Ausdruck, ihre Fluchtgedanken sind komplett weg, sie scheint sich in ihrem neuen Zuhause wohlzufühlen und geht nach unseren Besuchen auch immer wieder gerne dorthin zurück. Trotz zahlreicher Beschäftigungsangebote sehnt sie jeden Besuch von uns herbei - und teilt uns dennoch mit, dass sie freitags keine Zeit habe, weil dann Schwimmen sei.

Die Unterbringung einer Demenzkranken ist - wie auch die anderen Dinge in diesem Umfeld - ein gedanklicher, emotionsgeladener Lernprozess. Die zentrale Frage sollte sein: "Was ist das Beste für die Erkrankte - und (in zweiter Linie) für die Familienangehörigen?", und nicht: "Womit kann ich als Angehöriger (psychisch) leben?"

Noch eins zum Schluss: Da diese Erkrankung eben so speziell ist, sollte man als Angehöriger sich wirklich nur diejenigen Ratschläge von Ärzten und Pflegepersonal zu Herzen nehmen und in seine Entscheidungen miteinbeziehen, die auch wirklich von Leuten kommen, die nicht nur (Fach-)Wissen, sondern auch eigene Erfahrungen rund um "Morbus Pick" besitzen!





 





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