Dienstag, 3. Mai 2011

Der gefürchtete Anruf

Es ist Mittwoch, der 20. Oktober 2010.

Wir haben das verlängerte Wochenende bei den Schwiegereltern verbracht. Am Samstagvormittag hatten wir eine Stippvisite bei meiner Mutter, die eine halbe Stunde von ihnen entfernt wohnt, gemacht - ohne Voranmeldung. Bereits seit Monaten hatten wir keinen Kontakt mehr - wie auch, es liegen 300 km zwischen uns, und ein Telefon besitzt sie - aufgrund zahlreicher Schulden - schon seit längerem nicht mehr.

Eine aufgequollene Frau mit strähnigen Jahren, bekleidet mit einem dreckigen Jogginganzug öffnete uns die Tür. Sie freute sich sehr, uns zu sehen. Die Kinder hatten Angst vor ihren unvermittelten Kontaktaufnahmeversuchen, bei denen sie krallenartig die Hände der Kinder umschloss und sie so zum Dableiben zwang. Beißender Uringestank umfing uns, als wir die Wohnung betraten. Mühsam versuchten wir ein Gespräch in Gang zu bringen - sie blieb seltsam teilnahmslos. Nur bei den Berichten über mögliche Millionengewinne zahlreicher Gewinnspielbriefe, die sich hochhausartig auf allen Sitzmöglichkeiten im Wohnzimmer stapeln und an denen sie rege teilnimmt, wurde sie lebhaft.

Nach einer Stunden brachen wir den Besuch wieder ab. Im Auto nahm ich mir fest vor, bei meiner Rückkehr endlich tätig zu werden - es war eindeutig, daß meine nun Mutter Hilfe brauchte.

Es ist Mittwoch, der 20.10.2010.

Wir sind eben gerade von der langen Heimfahrt ins Haus gekommen; das Telefon klingelt; unwillig nehme ich ab; es ist der "Lebensabschnittsgefährte" meiner Mutter. Er spricht kurz angebunden, hat es eilig, schnell betet er die Telefonnummer eines Klinikums herunter, welches um meinen Rückruf bittet. Genaues weiß er nicht, will er vielleicht auch nicht wissen?

Ich wähle die mir unbekannte Nummer eines Krankenhauses in der Nähe des Wohnortes meiner Mutter. Eine freundliche Schwester hebt ab und ist sehr erleichtert, als ich meinen Namen nenne und nach meiner Mutter frage: "Was ist passiert?" will ich wissen.

"Ihre Mutter ist am Montagmittag orientierungslos auf der Autobahn aufgefunden worden. Sie spazierte an der Seite der Leitplanke. Zunächst widersetzte sie sich den beiden Polizisten, die sie mitnehmen wollten, dann floh sie zweimal hintereinander aus einem Krankenhaus, bevor die Polizei sie am Nachmittag dann in unser psychiatrisches Fachkrankenhaus brachte. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, war in keinster Weise gesprächsbereit - wir mußten sie fesseln und schließlich sedieren."
Tränen laufen mir lautlos über die Wangen, als ich das Telefonat mit dem Versprechen, mich später erneut zu melden, beende. Die Kinder stürmen fröhlich lärmend herein. Mein guter Vorsatz vom Samstag - zu spät. Die Ereignisse waren schneller.

Meine bewährte Krisenmanagement-Mentalität schlägt durch. Innerhalb der nächsten halben Stunde plane und organisiere ich, dann sind weitere Urlaubstage mit unseren Chefs abgeklärt, die Kinder aus dem Kindergarten abgemeldet, die Schwiegereltern erneut um ein Schlafplätzchen gebeten, alle dringenden Büroangelegenheiten eingetütet, - die Wäsche dreht ihre Kreise in der Miele. Morgen Mittag können wir wieder starten. Nur noch die engsten Familienmitglieder informiere ich, dann legen wir uns erschöpft zum Schlafen ins Bett.


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