Montag, 2. Mai 2011

Die Vergangenheit

Meine Mutter ist Jahrgang 1945 - kurz nach dem Krieg in einer Hauptstadt im Europäischen Ausland zur Welt gekommen. Schon früh zeigt sie einen gesteigerten Ehrgeiz in Schule und Sport; in den Ferien fährt die ganze Familie zum Zelten nach Deutschland und lernt dort nach und nach andere deutsche Familien kennen. Mit 12 Jahren weiß meine Mutter, daß sie später einmal in Deutschland leben möchte. Sie ist ganz fasziniert davon, dass alles so sauber ist, und dass die Menschen so pünktlich sind. Es ist die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders.

Zum Deutschkurs fährt sie mit den Freundinnen alleine nach Heidelberg - Jahr für Jahr. Sie möchte am liebsten sofort dort bleiben, doch ihre Mutter verlangt einen Schulabschluss, bevor sie ins Ausland darf. 1964 ist es dann soweit: Meine Mutter hat ihr Wirtschaftsabitur in der Tasche. Monate später ist sie auf dem Weg nach Heidelberg. Sie belegt einen Kurs "Deutsch für Ausländer" an der Uni und arbeitet im Amerikanischen Hauptquartier als Sekretärin.

1968 entschließt sie sich spontan mit zwei Freunden nach London zu gehen. Es sind die "Swinging Sixties" - die Beatles, die Rolling Stones, Musicals wie "Hair" etc. machen London zu einer quirligen, unglaublich lebendigen Stadt. Meine Mutter fühlt sich spontan wohl: Sie wohnt - mit anderen alleinstehenden Frauen - in einem großen Haus und hat ihr eigenes Zimmer. Sie belegt einen Kurs "Englisch für Ausländer" an der Uni und findet u. a. eine Anstellung als Kellnerin im "Swiss Center" - hier arbeiten junge Leute aus allen Nationen im Service und in der Küche. Meine Mutter ist wohl das, was man landläufig als "heißen Feger" bezeichnet: Lange schlanke Beine in langen Stiefeln, Minirock, toupierte lange Haare - die Schar der Verehrer ist groß.

An Weihnachten 1969 lernt sie meinem Vater kennen. Er ist ebenfalls als Kellner im "Swiss Center" beschäftigt und fährt einen weißen Käfer. Gemeinsam unternehmen sie Ausflüge in die englische Countryside. Sie finden zusammen und bleiben zusammen. Der gutaussehende Deutsche hat das Rennen u. a. gegenüber einem blassen Engländer und einem prickelnden französischen Koch gemacht.

1971 gehen die beiden nach Lausanne, in die Schweiz. Beide finden Anstellung in einem renommierten Hotel; wieder belegt meine Mutter einen Kurs an der Uni: "Französisch für Ausländer". Zwei Jahre später verlegen sie ihren Wohnort endgültig nach Deutschland: Im Januar 1973 wird geheiratet. Während mein Vater sich in den folgenden Jahren eine gastronomische Führungsposition aufbaut, und die Familie mehrfach umzieht, bringt meine Mutter zwei Kinder zur Welt und lebt das typische Hausfrauendasein der 70er Jahre.

Dieses endet jäh im Jahre 1989. Schon seit längerem mehrten sich die Anzeichen für eine endgültige Trennung zwischen den beiden. Dann kommt es zum klassischen Break down: Schulden, Fremdgehen, Scheidung. Die Kinder sind inzwischen in der Pubertät - dürfen frei entscheiden, bei wem sie bleiben. Das behagliche, wohlsituierte Leben ist plötzlich vorbei. Ein schlimmer Rosenkrieg um Unterhaltszahlungen für Frau und Kinder entbrennt für Jahre.

Nach 17 Jahren des Hausfrauen-Daseins sieht der Beschluss der Scheidungsurkunde eine Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit für meine Mutter vor. Inzwischen hat das Computer-Zeitalter begonnen - die ersten 4-86er bevölkern deutsche Haushalte. Sie nimmt an einem einjährigen Interations-PC-Kurs teil: Lernt FIBU, Word, Excel und weitere nützliche Dinge. Es macht Ihr Spaß, sie trifft Frauen in der gleichen Situation, hebt sich bald durch große Motivation und sehr gute Noten von der Masse ab.

Anfang der 90er bekommt sie durch eine Zeitarbeitsfirma ihren ersten Zeitarbeitsvertrag im Studentensekretariat der Universität. Nur wenig später erhält sie eine unbefristete Anstellung mit einem Gehalt nach dem TVöD. Ein wahrer Segen, denn in den kommenden Jahren verlassen beide Kinder das Haus zum Studium, sie sorgt gut für beide. - Sie macht sich auch auf ihrer neuen Arbeitsstelle bald einen Namen: Als rechte Hand des Leiters unterstützt sie bei der Organisation, bald übersetzt sie freiwillig und unentgeltlich Zeugnisse deutscher Studenten in andere Sprachen oder ausländische Zeugnisse ins Deutsche. Trotz ihrer Einzelkämpfer-Mentalität und ihrer wirtschaftlich geprägten, teilweise unorthodoxen Arbeitsweise baut sie sich ein Netzwerk unter Mitarbeitern, Professoren und Studenten auf, die sie alle sehr schätzen. Besonders bei jüngeren Leuten ist sie durch ihre unkonventionelle Art sehr beliebt.

Im Jahre 2000 hat sie die Scheidung endgültig hinter sich gelassen: Die Kinder sind aus dem Haus, sie geht wieder tanzen, besucht Konzerte, trifft sich mit Freundinnnen, plant die erste Amerika-Reise zu den Verwandten - ein Vorhaben, das Jahre zuvor durch das Treffen meines Vaters in England nie zustande gekommen ist. Sie schmiedet erste Pläne für die Zeit "in der Rente" - möchte reisen, Enkelkinder haben - und - wie in Amerika üblich - auch noch nebenbei arbeiten gehen.

Im Mai desselben Jahres verliebt sie sich wieder - und geht eine heiße Affäre mit einem Arbeitskollegen ein. Sie ist wieder jung und macht verrückte Sachen: Nächtliches Nacktbaden im angrenzenden See, ausgedehnte Sekt-Picknicks im Botanischen Garten während der Mittagspause, zahlreiche Kurzausflüge in die Natur, entspannte Konzertbesuche....

Aus der Affäre wird in den kommenden Jahren eine feste Bindung. Meine Mutter wird wieder zur Malerei inspiriert, kopiert stundenlang Künstler wie Monet, spielt wieder regelmäßig Klavier, nimmt zum erstenmal Gesangsstunden. Schließlich treten sie gemeinsam bei Weihnachtsfeiern und Geburtstagen in Seniroenheimen auf, und veranstalten Ausstellungen mit eigenen Bildern.

To be continued....

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