Mittwoch, 4. Mai 2011

Die geschlossene Aufnahmestation der Psychiatrie für Akutfälle

Langsam suchen wir uns zwischen den verschiedenen Gebäuden den Weg zum Haus Nr. 4: Die Aufnahmestation für psychiatrische Akutfälle. Plötzlich stehen wir vor einer großen Glaswand - auf der anderen Seite stehen wartend verschiedene Menschen - auch meine Mutter: Komplett mit Jacke und Mütze angezogen, die Handtasche im Anschlag. Sie gerät völlig aus dem Häuschen, als sie uns erkennt, und kann es gar nicht abwarten, bis der Pfleger uns endlich hereinläßt.

Die Kinder drücken sich verängstigt an unsere Beine - wir mussten sie mitnehmen, auch die andere Oma kennen sie noch nicht so gut, als dass sie bei ihr geblieben wären. Schnell werden wir auch von anderen Patienten angesprochen, sind froh, als uns der Pfleger in einen anderen Raum führt. Er berichtet in kurzen Sätzen, was wir inzwischen wissen: Sie sei zunächst nicht kooperativ gewesen, habe sich auch nicht waschen wollen, sei ziemlich verwahrlost gewesen. Zwischenzeitlich habe man sie zum Duschen überreden können, ihre Klamotten seien in der Wäscherei gewesen. Nun sei sie ganz friedlich, er sei ihr Bezugspfleger und habe schon mehrfach einen Gesprächskontakt mit ihr aufnehmen können. Ihre Wertsachen habe sie nicht herausgeben wollen.

Der Pfleger berichtet weiterhin, daß gestern der zuständige Richter dagewesen und eine Aufbewahrung (gegen ihren Willen) auf dieser Station für die nächsten sechs Wochen angeordnet habe. In drei Tagen sei er wieder da, dann gäbe es eine erneute Anhörung, der ich beiwohnen könne. Der behandelnde Arzt käme gleich vorbei und könne mir Genaueres zur Erkrankung mitteilen.

Wir lassen uns in einer abseits gelegenen Sitzgruppe mit meiner Mutter nieder. Sie berichtet von Ihren Erlebnissen:
"Am Montag sei sie mittags mit dem Bus zum Bahnhof gefahren, um die Regionalbahn in die Nachbarstadt zu nehmen. Sie wollte dort eine neue Filiale einer Bank aufsuchen, deren Flyer sie vor kurzem per Post erhalten habe. Die Darlehenskonditionen seien dort viel besser als bei ihrer alten Bank, sie wolle weitere Geld leihen. - In der Nachbarstadt angekommen habe sie diese Bank nicht gefunden und mehrfach nach dem Weg gefragt. Ein Mann hatte ihr dann den Weg beschrieben, der wohl an der Autobahn entlang ging. Dort sei sie dann gewandert, die Autos hätten sie nicht gestört, schließlich sei sie ganz am Rand an der Leitplanke gelaufen. Das habe sie auch den Polizisten gesagt, die plötzlich auftauchten, dass sie kein Problem mit den Autos habe, die aber hätten ja nicht hören wollen..."
 Sie ist glücklich, daß wir da sind. Sie denkt, wir nehmen sie mit nach Hause. Dann kommt der Arzt. Er bittet mich ins Schwesternzimmer, berichtet vom Aufnahmestatus und verschiedenen Tests die zur gesicherten Diagnosestellung notwendig seien. Ich berichte von meinem unguten Gefühl seit Jahren, händige ihm das 5seitige Anamnese-Schreiben aus, das ich im Frühjahr 2009 angefertigt hatte, als ich sie für die Alzheimer-Sprechstunde angemeldet hatte. Ich berichte davon, daß man dort nichts festgestellt habe, sondern - laut aussagen des begleitenden "Lebensabschnittsgefährten" - lediglich darauf hingewiesen habe, dass ein MRT in nächster Zeit nichts schaden könne. Ich berichte vom katastrophalen Umzug im Sommer 2009, als meine Mutter nach 25 Jahren ihr Haus am Stadtrand verließ, um in ein kleines Dorf zu ziehen. Ich berichte davon, wie sie dabei mit der Eisenstange auf mich losging (da wird er hellhörig), wie sie meinem Kind einen alten Rucksack von mir wieder entriss mit den Worten, der gehöre ihr. Der Arzt gibt mir ein 10seitiges Formular mit vielen Fragen über meine Mutter: Hausaufgaben, bitte schnellstmöglich ausfüllen.

Wir wollen aufbrechen. Der Pfleger sagt, es sei notwendig, weitere Klamotten und Kosmetikartikel von ihr mitzubringen. Sie will mir den Wohnungsschlüssel nicht freiwillig geben; nur mit List und Tücke gelingt es dem Pfleger, ihr die Handtasche für den Bruchteil von Sekunden zu entwenden, die Wohnungsschlüssel zu entwenden, mir in die Hand zu drücken und uns hinauszukomplimentieren.

Schreck erstarrt stehen wir mit den Kindern auf der anderen Seite der Glaswand und sehen meine Mutter, die herzzereissend weint und nicht versteht, warum sie da bleiben muss, warum wir sie nicht mitnehmen, warum ich ihr den Schlüssel habe wegnehmen lassen...

Sprachlos wenden wir uns dem Ausgang zu und sind mehr als dankbar für die kindlichen W-Fragen, die so gerne erfahren wollen, was mit Oma los ist, und deren Beantwortung uns von den eigenen Gedanken ablenkt...

In den nächsten Tagen werden wir erfahren, welche Krankheit sie hat, deren dunkle Schatten schon über uns liegen.

Abends rufe ich sie nochmals an und verspreche ihr ganz fest, morgen wieder da zu sein - mit ihrer heißgeliebte Lakritze. Dann beantworte ich noch akribisch die Anamnesefragen des Arztes.

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