Mittwoch, 4. Mai 2011

Die Diagnose

Die kommenden Tage sind sehr anstrengend und kaum zu bewältigen. Die Wohnung meiner Mutter, die Klinik, in der sie zur Zeit untergebracht ist, und unsere Übernachtung bei den Großeltern liegen in einem Dreieck von ca. 50 km pro Fahrt.Das kostet viel Zeit.

Morgens fahren wir zunächst zur Wohnung: Es stinkt nach Urin, die Küche ist völlig vermüllt, das Badezimmer seit Urzeiten nicht mehr geputzt, alle anderen Räume machen jedoch einen halbwegs "ordentlichen" Eindruck - abgesehen von den Zentern an Gewinnspielschreiben, die wir vorfinden. Frische Wäsche ist nicht mehr vorhanden - wie auch. Mutters Waschmaschine ist vor zwei Jahren kapputt gegangen, beim Umzug im vergangenen Jahr hatten wir sie in die neue Wohnung gestellt und für später einen Handwerker bestellt. Der ist wohl nie da gewesen - meine Mutter wäscht ihre Unterwäsche immernoch im Waschbecken, alle anderen Dinge sind nicht mehr gewaschen...Wir packen große blaue Müllsäcke mit ihrer Wäsche, die wir zur Schwiegermutter bringen. Dort dürfen wir waschen.

Gewappnet mit den gewünschten Sudoku-Heften und der Lakritze machen wir uns erneut in die Klinik auf. Meine Mutter freut sich riesig, uns zu sehen. Gleichzeitig ist sie erboßt darüber, daß ich "mit denen da" gemeinsame Sache mache und sie nicht nach Hause darf. In welcher Umgebung sie sich befindet, scheint sie nicht zu realisieren, denn mit einer anderen Patientin, die sie für eine Klinikangestellte hält, plant sie gemeinsam Weihnachtskonzerte für den kommenden Dezember. Außerdem informiert sie uns ausschweifend darüber, welche Fluchtpläne sie für heute Abend gemacht hat; deshalb verlangt sie auch die Herausgabe der Haussschlüssel von mir.

Der behandelnde Arzt bittet mich zum Gespräch. In klaren Sätzen erklärt er mir, dass er zunächst aufgrund der ausführlichen Anamneseerhebung bereits die Verdachtsdiagnose "Frontotemporale Demenz" gestellt hatte, die sich jetzt durch ein sog. CT bestätigt hat: Besonders im rechten Frontallappen ist die Hirnatrophie schon recht fortgeschritten. Seine Diagnose steht fest, aus seiner Sicht gibt es hier keine andere Möglichkeit.

Ziemlich verdattert frage ich ihn, ob das nun heißt, dass meine Mutter einen Pflegedienst braucht, um weiterhin zu Hause leben zu können. "Nein", sagt er, "diese Erkrankung ist zu weit fortgeschritten. Ihre Mutter kann nicht mehr zu Hause leben - auch nicht mit Pflegeunterstützung; sie muss in einem entsprechenden Pflegeheim untergebracht werden - und zwar geschlossen." Darüber hinaus, so verkündet er, sei die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung unabdingbar.

Diese Aussage haut mich erstmal um - uralte Ängste und Vorurteile befallen mich spontan: Vormundschaft und Altersheim. Ich bin froh, als das Gespräch vorerst beendet ist. Nach einem weiteren tränenreichen, turbulenten Abschied von meiner Mutter fahren wir zu den Schwiegereltern. Währenddessen befällt mich das schlechte Gewissen wegen meiner Kinder, die dieses Alles miterleben müssen, weil ich einfach keine andere Unterbringungs- bzw. Betreuungsmöglichkeit für sie habe. Ich erkläre ihnen, daß Oma krank ist. Das verstehen sie, und mit ihren eigenen Handlungsvorschlägen schaffen sie es, mich zu trösten.

An diesem Abend machen wir uns im Internet über "Morbus Pick" kundig. Die Berichte zahlreicher Angehöriger über den Fortgang dieser Erkrankung geben mir gedanklich den Rest. Es ist wie ein De ja vú - Erlebnis: So viele vergangene Ereignisse, die wir nicht deuten konnten, sind heute Symptome dieser Erkrankung. Es passt wie Faust auf Auge.

Betäubt schalte ich den Rechner aus und plane die notwendigen Aktionen der nächsten Tage vor Ort. Bloss nicht nachdenken, was die Auswirkungen der "Frontotemporalen Demenz" für uns alle in der Zukunft bedeuten. Das ist jetzt einfach zu viel.

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